Gefühlsstarkes Kind oder ADHS?
Wie Sie die feinen Unterschiede erkennen – und warum beide Perspektiven wichtig sind
1 | Was bedeutet „gefühlsstark“?
- Temperament, keine Diagnose. Rund 10–20 % aller Kinder reagieren von Geburt an intensiver auf Reize, zeigen große Beharrlichkeit und starke Emotionen – Mary Sheedy Kurcinka prägte dafür den englischen Begriff spirited children, in Deutschland popularisierte ihn Nora Imlau. Diese Kinder brauchen meist keine Therapie, sondern Begleitung, die ihr Temperament als Stärke versteht.
 - Typische Anzeichen
- heftige Gefühlsausbrüche, aber auch überschäumende Freude
 - hohe Energie und Ausdauer bei Lieblingsthemen
 - sensorische Empfindlichkeit (Geräusche, Stoffe, Gerüche)
 - Schwierigkeiten, Neues zu akzeptieren oder Routinen einzuhalten
 
 
2 | Was ist ADHS?
- Medizinische Störung mit klaren Kriterien. ADHS umfasst die Symptomcluster Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität; sie treten je nach Präsentation einzeln oder kombiniert auf (DSM-5).
 - Diagnostik nach Leitlinie. In Deutschland regelt dies die interdisziplinäre S3-Leitlinie 028-045, zuletzt 2023 überprüft. Sie verlangt eine umfassende Anamnese, Fremdberichte (Eltern, Schule) und standardisierte Tests, bevor die Diagnose gestellt wird.
 
3 | Gemeinsamkeiten – warum man die beiden oft verwechselt
| Bereich | Gefühlsstark | ADHS | 
|---|---|---|
| Reizoffenheit | hoch | hoch | 
| Emotionale Intensität | sehr hoch | häufig hoch | 
| Regulationsschwierigkeiten | situativ | chronisch, oft schwerwiegender | 
| Motorische Unruhe | gelegentlich | typisch bei hyperaktiver/ kombinierter Form | 
| Aufmerksamkeitsprobleme | eher bei Überreizung | Kernsymptom | 
Wichtig: Etwa die Hälfte der Kinder mit ADHS zeigt ausgeprägte Probleme der Emotionsregulation – also ein Merkmal, das bei gefühlsstarken Kindern im Vordergrund steht.
4 | Fünf Leitfragen für Eltern
- Dauert die Unruhe an verschiedenen Orten an? ADHS-Symptome müssen in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. Schule und Zuhause) auftreten.
 - Geht es um Emotion oder Aufmerksamkeit? Wenn das Kind auch in ruhigen Phasen Aufgaben nicht beginnen kann oder vergisst, ist ADHS wahrscheinlicher.
 - Gibt es einen Leidensdruck? Gefühlsstärke wird problematisch, wenn Kind oder Familie dauerhaft überfordert sind; ADHS verursacht oft schon früh Funktionsbeeinträchtigungen (Noten, Freundschaften).
 - Reagiert das Kind auf strukturierende Strategien? Gefühlsstarke Kinder profitieren schnell von Reizreduktion und Emotionscoaching; bei ADHS braucht es häufig zusätzlich spezifische Interventionen.
 - Wie war die Entwicklung bis jetzt? Ein ungewöhnlich früher Beginn massiver Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsprobleme spricht für ADHS.
 
5 | Unterstützungsstrategien
| Gefühlsstarkes Kind | ADHS | 
|---|---|
| Emotionscoaching (Benennen, Spiegeln, Atmung) | Verhaltenstherapie, Elterntraining nach S3-Leitlinie | 
| Reizarme Pausen, „Rückzugs-Insel“ | Strukturpläne, Timer, kurze Arbeitsintervalle | 
| „Kuschel- statt Konsequenz-Minute“ nach Eskalationen | ggf. medikamentöse Therapie (z. B. Methylphenidat) | 
| Fokus auf Stärken (Neugier, Ausdauer) | Ressourcenorientierung + schulische Nachteilsausgleiche | 
| Regelmäßige Bewegung zur Spannungsabfuhr | Sportprogramme zur Impuls- und Aufmerksamkeitskontrolle | 
6 | Wann ist eine professionelle Abklärung sinnvoll?
- Anhaltende Konzentrations- oder Leistungsprobleme trotz passender Lernumgebung
 - Ständige Konflikte in Familie, Kita oder Schule
 - Selbstwert sinkt (Kind bezeichnet sich als „dumm“ oder „schlecht“)
 - Begleitprobleme wie Schlafstörungen, Ängste oder depressive Verstimmung
 
Kinder- und Jugendpsychiatrische oder neuropädiatrische Ambulanzen führen standardisierte Tests durch und helfen, zwischen Temperament und Störung zu unterscheiden.
7 | Fazit
Ein gefühlsstarkes Temperament ist kein Defizit, sondern eine kraftvolle Eigenschaft. Doch wenn starke Gefühle von ausgeprägten Aufmerksamkeits- und Impulskontrollproblemen begleitet werden, lohnt sich ein genauer Blick auf ADHS. Eine fundierte Diagnose schützt vor unnötiger Pathologisierung – genauso wie sie verhindert, dass echtes Leiden übersehen wird. Entscheidend sind Beobachtung, Verständnis und eine frühzeitige, passgenaue Unterstützung.
